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Jeder ist ein Architekt

Muss man nach Lagos fahren um herauszufinden, dass jeder ein Architekt ist?

Das Alltägliche ist keine »neue Realität«, die man nur in den krisengeschüttelten, ärmsten Städten der Welt finden kann. Doch Begegnungen mit dem Ungewohnten sind vielleicht notwendige Katalysatoren, die eigene Umgebung unvoreingenommen wie ein Fremder neu wahrzunehmen. Beispielsweise haben uns Aufenthalte in Warschau und Neapel neue Zugänge zum Thema des Alltäglichen eröffnet: Erstere eine Stadt im Umbruch an den Rändern der EU, letztere eine Stadt in der Schriftsteller wie Walter Benjamin und Goethe auf ihren Italienreisen Kontinuitäten des Alltäglichen bis zurück in die Antike entdeckten. Das Alltägliche ist weder die Zukunft noch die Vergangenheit, sondern das Jetzt. Und es passiert nirgendwo anders, als im Hier. Uns erscheint es als Herausforderung, sich vom eigenen Alltag inspirieren zu lassen und das Gewöhnliche nicht als banal zu begreifen.
Nach der Wende bot Berlin eine einmalige Gelegenheit dazu, da das Gewohnte plötzlich durch neue Gegebenheiten und neue Formen der Erfahrung von Stadt überlagert wurde. Das plötzliche Vakuum, das mit dem Zusammenbruch der DDR entstanden war, bot die große Freiheit, experimentelle Aneignungsformen von Bauten und öffentlichen Räumen zu erproben. Wir dokumentierten einige dieser Nutzungen des öffentlichen Raumes (Berliner Eck). Zugleich beschäftigten wir uns mit den vielfältigen Nutzungsformen des Berliner Mietshauses (Bäckerei), das die elementare Bauform der Stadt bildet. In den folgenden Jahren konnte man dann am Beispiel der Planungen und dem Neubau der Mitte Berlins beobachten, wie ein enorm teurer und verschwenderischer Prozess große Teile dieser alltäglichen städtischen Dynamik austrocknete.

Warum gerade jetzt das Interesse am Alltäglichen?

Unser Interesse am Alltäglichen entstand aus unserem Studium mit einem losen Zusammenschluss von Lehrern der Architectural Association in London (William Firebrace, Peter Salter, Jeanne Sillett und Chris Macdonald) und unserer daran anschließenden Architekturpraxis in Berlin. Das momentan große Interesse am Alltäglichen zeigt, dass auch andere Architekten sich mit ähnlichen Fragen auseinandersetzen.
Das Alltägliche stellt das kulturelle Selbst-verständnis der Architektur in Frage. Albert Maysles  Dokumentarfilm »Concert of Wills« (1997) über die Planung des Getty Center in Los Angeles bietet hierzu eine aufschlussreiche Szene, in der sich Richard Meier, frei von jeglicher Ironie, über die Unordnung beschwert, die durch die Familienfotos auf den Schreibtischen der Angestellten entsteht. Später wurden wir auf die Texte von Lefebvre und de Certeau aufmerksam die wir neben anderen als theoretische Untermauerung unseres architektonischen Ansatzes sehen. Trotzdem ist nicht die Theorie, sondern die direkte Erfahrung der Ausgangspunkt unserer Recherchen gewesen.

Was meint der Begriff Situation?

Wir definieren eine Situation als das Eingreifen sozialer Interaktion in ihre Umgebung. Daraus leitet sich unser Interesse an den Dingen ab, die von den Menschen geschaffen oder arrangiert werden um zwischen einem Ereignis und seinem städtischen Umfeld zu vermitteln. Die Situation besitzt soziale Bindungskraft, sie ist unvorhersehbar und ortsspezifisch. Sie markiert einen Gegenpol zum Nicht-Ort der globalisierten Konsumkultur.

Warum ein dokumentarischer Ansatz?

In unseren Untersuchungen wurde das Beobachten und Kartieren von Orten und Situationen im Laufe der Zeit immer wichtiger und methodisch komplexer. Denn die Rechercheergebnisse ließen ein vielschichtiges und widersprüchliches Ganzes erkennen, eine sich ständig verändernde Konfiguration von Dingen und Menschen, die mit der Abstraktheit des architektonischen Entwurfsprozesses oftmals in Konflikt steht.
Erst aus der Distanz und nach Abschluss einiger Untersuchungen wurde uns wirklich bewusst, welche Potentiale das Dokumentieren für die architektonische Praxis besitzt. Wir realisierten, dass dieses Potential dezidiert auf der Autonomie des Dokumentarischen in seinen eigenen Bedingungen basiert, im Sinne einer unvoreingenommenen minutiösen Beobachtung eines Orts, die nicht notwendigerweise von architektonischem Veränderungswillens motiviert ist. Das dokumentarische Material brauchte somit nicht sofort in den Entwurfsprozess einzufließen, sondern konnte zu einer Ansammlung von Informationen über unsere Umgebung werden. Dies eröffnete eine neue Perspektive, in der Dokumentation und Entwurf gleichgestellt, voneinander unabhängig, sich aber gleichzeitig gegenseitig ergänzen können.

Was sind die Werkzeuge der Dokumentation?

Die Anthropologie/Ethnologie widmet sich seit Jahrzehnten der Entwicklung präziser Methoden mit Hilfe derer Situationen dokumentiert werden können, stützt sich dabei aber nicht auf Zeichnungen, sondern primär auf das Medium Text. In einem ersten Schritt adaptierten wir die konventionellen architektonischen Werkzeuge der Darstellung um damit Situationen zu beschreiben. Die Objekte wurden in Grund- und Aufriss gezeichnet. Darüber hinaus war uns wichtig die menschliche Figur in die Zeichnung zu integrieren und in ihrem situativen Kontext darzustellen, im Gegensatz zu der in Architekturzeichnungen verbreiteten Darstellung des Menschen als Staffage.
Um die N utzungsmuster möglichst vollständig erfassen zu können war es notwendig, längere Zeit an einem Ort zu verbringen und sich in diesen »zu versenken«. Daher wurde die zeitliche Dimension zunehmend wichtiger für uns und verlangte nach dem Erproben neuer Techniken, um dokumentieren zu können wie ein Ort oder Gebäude über die Zeit hinweg genutzt wird. Hier arbeiten wir mit Film/Video und essayistischen Text/ Bildcollagen. Unsere Modelle begreifen wir als Werkzeuge und nicht als Medium der Repräsentation, weshalb sie variabel und unterschiedlich konfigurierbar sind.

Wie kann die Praxis des Dokumentierens den architektonischen Entwurfsprozess beeinflussen?

Zum einen und in eher intuitiver Hinsicht entstehen Beeinflussungen durch die Rückführung der neu entwickelten dokumentarischen Techniken in den Ent-wurfsprozess. Sobald man beispielsweise Formen der Beschreibung entwickelt hat mit Hilfe derer man beobachtete Bewegungen aufzeichnen kann, ist es relativ natürlich diese auch im Entwurfsprozess zu verwenden.
Während das Dokumentieren ein Prozess ist, der sich vom Spezifischen zum Thematischen entwickelt, ist der Entwufs-prozess gegenläufig, da hier eine Idee schrittweise konkretisiert wird. Im Bereich des Thematischen kann es zu Überschneidungen kommen indem die Dokumentation den Entwurf beeinflusst, dabei jedoch nicht auf rein formale Bezüge zurückgreift.

Wenn jeder ein Architekt ist, welche Rolle spielt dann der ausgebildete Architekt?

Das Konzept, dass jeder ein Architekt sei, verdrängt den qualifizierten Architekten nicht, sondern verändert seine Rolle. »Jeder ist ein Architekt« bedeutet, dass es in jeder Situation ein Netzwerk kreativer Kräfte gibt, die auf verschiedenen Maßstabsebenen und mit unterschiedlichen Zielen arbeiten. In diesem Kontext kann der Situative Urbanist eine Umgebung weder schaffen noch ganz kontrollieren. Das Netzwerk kreativer Handlungen erstreckt sich vom Maßstab des privaten Wohnens bis zur Stadt als Ganzes. Vereinende Visionen gibt es hierbei auf keiner Maßstabsebene, vielmehr ein Netz von Geschehnissen und deren vielfältige Zusammenhänge.
Durch die Praxis des Dokumentierens hat der Situative Urbanismus einen spezifischen Blick auf Situationen entwickelt, der zugleich das Detail und das Ganze zu erfassen vermag. Er ist darauf bedacht nicht die sozialen und physischen Aspekte der Gesamtsituation aus seinem Blickfeld zu verlieren. Er versucht die oft verborgenen Potentiale der alltäglichen Situationen wahrzunehmen um hieraus einen sozialen, an Stelle eines bloß ökonomischen oder ästhetischen, Mehrwerts zu schaffen. Seine ortsspezifischen Interventionen fungieren als Initiatoren weiterer Veränderungen, indem sie den Blick auf Qualitäten lenken, die ansonsten unentdeckt bleiben oder unterbewertet sind.

Übersetzung: Gregor Harbusch